CHRISTIE Agatha - Hercule Poirot rechnet ab.rtf

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AGATHA CHRISTIE

 

Hercule Poirot

rechnet ab

Sammler-Edition

 

 

 

Scherz

Bern - München - Wien

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Einmalige Ausgabe 1995

Einzig berechtigte Übertragung aus dem Englischen

Titel der Originalausgabe: »Poirot Investigates«

Originaltitel der Stories: »The Adventure of the Western Star«,

»The Tragedy at Marsdon Manor«, »The Adventure of

the Cheap Hat«, »The Mystery of Hunter's Lodge«,

»The Million Dollar Bond Robbery«, »The Adventure of the

Egyptian Tomb«, »The Jewel Robbery at the Grand Metropolitan«,

»The Kidnapped Prime Minister«, »The Disappearence of

Mr. Davenheim«, »The Adventure of the Italian Nobleman«,

»The Case of the Missing Will«.

Copyrights alle © 1925 by Dodd Mead & Company Inc.

Gesamtdeutsche Rechte beim Scherz Verlag

Bern, München, Wien

Die Augen der Gottheit

Ich stand am Fenster von Poirots Zimmer und sah gelangweilt auf die Straße hinunter. »Komisch«, murmelte ich plötzlich. »Was ist los, mon ami?« fragte Poirot sanft aus den Tiefen sei­nes bequemen Sessels.

»Poirot, wie beurteilen Sie folgende Situation? Hier unten auf der Straße kommt eine junge Dame, erstklassig angezogen - eleganter Hut, wertvoller Pelzmantel -, sie kommt langsam die Straße entlang und schaut suchend an den Häusern hoch. Sie scheint nicht zu merken, daß ihr drei Männer und eine Frau in mittleren Jahren folgen. Eben kommt noch ein Boten­junge dazu, der seine Rede mit lebhaften Gesten unterstreicht und auf das Mädchen deutet. Was hat das zu bedeuten? Ist das Mädchen eine Hochstaplerin und wird von Detektiven verfolgt, die sie verhaften wollen? Oder sind die Verfolger Gangster, die einen Überfall auf ein unschuldiges Opfer vor­haben? Was halten Sie davon, großer Meisterdetektiv?« »Der große Meisterdetektiv, mon ami, wählt wie immer den einfachsten Weg, er schaut sich die Geschichte mal an.« Mein Freund trat zu mir ans Fenster.

Er sah auf die Straße hinunter und fing amüsiert zu kichern an.

»Wie immer, mon ami, haben Sie die Sache mal wieder durch Ihre romantische Brille betrachtet. Die Dame ist Miss Mary Marvell, der bekannte Filmstar. Sie wird von Verehrern ver­folgt, die sie erkannt haben. Nebenbei bemerkt, lieber Hastings, hat sie das längst beobachtet, und es ist ihr gar nicht unangenehm.«

Ich lachte.

»Dann ist also alles geklärt. Aber das ist nicht Ihrem Scharfsinn zu verdanken, Poirot! Sie haben die Dame erkannt und daraus einfach Ihre Schlüsse gezogen.« »Ja...? Und wie oft haben Sie Mary Marvell auf der Lein­wand gesehen, mon cher?« Ich dachte nach. »Ungefähr ein dutzendmal.« »Und ich - einmal! Und doch erkenne ich sie - und Sie nicht!« »Sie sieht so anders aus«, erwiderte ich leise. »Aha! Sacrè!« rief Poirot. »Erwarten Sie vielleicht, daß sie in Londons Straßen mit einem Cowboyhut oder barfuß als iri­sche Freiheitskämpferin herumläuft? Sie sehen immer nur das Unwesentliche. Erinnern Sie sich mal an den Fall der Tänzerin Valerie Saintclair.«

Unwillig zuckte ich mit den Schultern. »Aber beruhigen Sie sich, mon ami«, sagte er besänftigend, »es kann ja nicht jeder ein Hercule Poirot sein. Ich weiß das wohl.«

»Ich habe noch nie einen Menschen kennengelernt, der so eingebildet ist!« rief ich halb lachend, halb ärgerlich. »Was soll's. Wenn man einmalig ist, dann weiß man es auch. Andere Leute teilen meine Meinung - sogar, wenn ich mich nicht sehr täusche, Miss Mary Marvell.« »Wieso?«

»Sie kommt zweifellos zu mir.« »Woher wissen Sie das?«

»Sehr einfach. Diese Straße hier ist nicht die allervornehmste. Hier wohnt nirgend ein Modearzt oder Zahnarzt, keine Modi­stin, und eine exklusive Modeschau gibt es erst recht nicht -aber es gibt einen berühmten Detektiv. Ja! Mein Freund, Sie dürfen es glauben, ich komme in Mode. Man sagt: >Wie... Sie haben Ihr kleines goldenes Zigarettenetui verloren? Oh, dann müssen Sie zu dem kleinen Belgier gehen. Der ist wun­dervoll! Jeder geht dahin.< Und sie kommen alle! In Scharen, mon ami! Mit den idiotischsten Anliegen.« Es läutete. »Was habe ich Ihnen gesagt? Das ist Miss Mar­vell.«

Wie üblich hatte Poirot recht. Nach ein paar Sekunden wurde der amerikanische Filmstar hereingeführt. Mary Marvell war ohne Zweifel eine der populärsten Schau­spielerinnen der Leinwand. Sie war erst vor kurzem in Beglei­tung ihres Gatten Gregory B. Rolf - ebenfalls Schauspieler -in England eingetroffen. Sie hatten ungefähr vor einem Jahr in Amerika geheiratet, und es war ihr erster gemeinsamer Be­such in England. Man hatte ihnen einen großartigen Empfang bereitet, hatte alles bewundert, was Miss Marvell tat, ihre herrlichen Kleider, ihre Pelze, ihre Juwelen - vor allem einen kostbaren Stein, einen großen Diamanten, den man den Western Star nannte, eine Anspielung auf seine Besitzerin. Viel Wahres und Unwahres wurde über diesen berühmten Stein geschrieben, der angeblich für die enorme Summe von fünfzigtausend Pfund versichert war.

Diese Details fielen mir blitzartig ein, als ich mit Poirot unsere blonde Klientin begrüßte.

Miss Marvell war klein und zierlich, sehr blond und mäd­chenhaft, mit großen, unschuldigen, blauen Kinderaugen. Poirot bot ihr Platz an, und sie begann sofort zu sprechen. »Sie werden mich vielleicht für töricht halten, Monsieur Poi­rot, aber Lord Cronshaw hat mir gestern abend erzählt, wie wunderbar Sie die mysteriösen Todesumstände bei seinem Neffen aufgeklärt haben. Deshalb möchte ich Sie dringend um Ihren Rat bitten. Wahrscheinlich ist das Ganze nur ein Scha­bernack - Gregory glaubt das jedenfalls -, aber ich bin sehr beunruhigt.«

Sie seufzte. Poirot lächelte ihr aufmunternd zu. »Sprechen Sie weiter, Madame.«

»Es handelt sich um diese Briefe.« Miss Marvell entnahm ihrer Handtasche drei Briefe und gab sie Poirot. Der betrachte­te sie genau.

»Billiges Papier, Name und Adresse mit verstellter Schrift sorgfältig gemalt. Wollen wir uns doch mal den Inhalt dieser Briefe ansehen.«

Ich stellte mich hinter ihn und sah ihm über die Schulter. Auf dem Papier stand ein einziger, sorgfältig gemalter Satz:

Der große Diamant, das linke Auge des Gottes, wird zurückgefordert. Der zweite Brief hatte genau denselben Wortlaut, aber der dritte war etwas ausführlicher und lautete:

Man hat Sie gewarnt. Sie haben jedoch der Aufforderung nicht Folge geleistet. Jetzt wird Ihnen der Stein abgenommen werden. Wenn der Mond sein volles Gesicht zeigt, sollen die Diamanten, das linke und das rechte Auge der Gottheit, zurückkehren. So steht es geschrieben. »Den ersten Brief tat ich als Witz ab«, erklärte Miss Marvell. »Als ich den zweiten bekam, fing ich an, mir Gedanken zu ma­chen. Der dritte traf gestern ein, und plötzlich schien es mir, als ob die Angelegenheit vielleicht doch ernster sei, als ich mir vorgestellt hatte.«

»Aus den Briefumschlägen ersehe ich, daß die Briefe nicht durch die Post zugestellt wurden. Ist das richtig?« »Ja, sie sind abgegeben worden - durch einen Chinesen. Das ist es ja, was mich erschreckt.« »Warum?«

»Weil es ein Gelber war, von dem Gregory vor drei Jahren in San Franzisko den

Stein gekauft hat.« »Madame, ich nehme an. Sie sprechen von dem ...« »... Western Star«, vollendete Miss Marvell den Satz. »Das war so: Als Gregory den Stein kaufen wollte, hörte er einige Gerüchte über seine Herkunft, aber der Chinese wollte keine Auskünfte geben. Gregory erzählte mir, der Mann sei ganz verstört gewesen und hätte nur den einen Wunsch gehabt, so schnell wie möglich den Stein loszuwerden. Er verlangte auch nur zehn Prozent des wirklichen Wertes. Es war Gregs Hoch­zeitsgeschenk für mich.« Poirot nickte gedankenverloren.

»Die Geschichte scheint recht phantastisch zu sein. Und doch, wer weiß? Hastings, würden Sie mir bitte mal meinen Kalen­der aus der Aktentasche geben?« Ich gab ihm das Gewünschte.

»Wollen wir doch mal nachsehen«, sagte Poirot und blätterte im Kalender, »wann Vollmond ist. Ah, nächsten Freitag. Das ist in drei Tagen. Eh bien, Madame, Sie wollen meinen Rat hö­ren - ich schlage Ihnen folgendes vor: Diese belle histoire kann ein Schabernack sein - es ist aber nicht sicher! Ich möchte Ih­nen daher raten, den Diamanten bis über den nächsten Freitag hinaus in meine Obhut zu geben. Dann können wir uns ent­schließen, was für Schritte wir unternehmen wollen.« Eine leichte Wolke des Unwillens huschte über das Gesicht

der Schauspielerin, und sie entgegnete verlegen:

»Ich fürchte, das ist unmöglich.«

»Sie haben ihn bei sich - hier?« Poirot beobachtete sie auf­merksam.

Das Mädchen zögerte einen Moment, dann fuhr sie mit der Hand in den Ausschnitt ihres Kleides und zog eine lange, dünne Platinkette heraus. Sie beugte sich vor und öffnete die Hand. In ihrer Handfläche lag ein Diamant von herrlich wei­ßem Feuer in einer prachtvollen Platinfassung. Poirot pfiff bewundernd durch die Zähne. »Epatant!« murmelte er. »Erlauben Sie, Madame?« Er nahm den Stein in die Hand und prüfte ihn genau, dann gab er ihn mit einer kleinen Verbeugung zurück. »Ein herrlicher Stein - ohne den geringsten Fehler. Ach, cent tonnerres! Und den tragen Sie so mit sich herum, als ob das gar nichts wäre?« »Nein, nein, ich bin wirklich vorsichtig damit, Monsieur Pol­rot. Für gewöhnlich ist er in meiner Schmuckkassette eingeschlossen und im Hotelsafe deponiert. Wir wohnen im Hotel Magnificent. Ich habe ihn ausnahmsweise heute mitgebracht, damit Sie ihn ansehen können.«

»Und Sie werden ihn hierlassen, n'est-ce  pas? Sie nehmen doch den Rat von Papa Poirot an?«

»Monsieur Poirot, das muß ich Ihnen erst erklären. Wir gehen nächsten Freitag nach Schloß Yardly, um ein paar Tage bei Lord und Lady Yardly zu bleiben.« Ihre Worte riefen eine vage Erinnerung in mir wach. Gesell­schaftsklatsch - wenn ich mich recht erinnerte. Vor einigen Jahren waren Lord und Lady Yardly nach Amerika gefahren, und man erzählte, daß Seine Lordschaft sich mit Hilfe mehre­rer Damenbekanntschaften großartig amüsiert hatte. Weiter wußte man zu berichten, daß Lady Yardly sich mittlerweile mit einem Filmstar in Hollywood die Zeit vertrieb - plötzlich durchzuckte es mich -, das war niemand anders als Gregory B. Rolf gewesen.

»Ich werde Ihnen ein kleines Geheimnis anvertrauen, Mon­sieur Poirot«, fuhr Miss

Marvell fort. »Wir haben ein Geschäft mit Lord Yardly vor. Es besteht die

Möglichkeit, daß wir einen Film in seinem mittelalterlichen Schloß drehen werden.«

»In Schloß Yardly?« warf ich interessiert dazwischen. »Das ist eines der schönsten alten Schlösser Englands.« Miss Marvell nickte.

»Ich glaube auch, es wäre gerade das richtige alte Feudal­schloß, das wir brauchen. Aber er verlangt einen ziemlich ge­salzenen Preis dafür, und deshalb weiß ich nicht, ob das Ge­schäft zustande kommt. Wissen Sie, Greg und ich verbinden immer gern das Geschäft mit dem Vergnügen.« »Aber - ich bitte um Verzeihung, Madame, wenn ich so hart­näckig bin - es ist doch sicher nicht notwendig, anläßlich die­ses Besuches in Schloß Yardly den Diamanten mitzunehmen?« Ein scharfer, harter Zug erschien in Miss Marvells Gesicht, der ihre sonst kindliche Erscheinung Lügen strafte. Sie sah plötzlich viel älter aus. »Ich möchte ihn dort tragen.«

»In der Schmucksammlung von Schloß Yardly gibt es ein paar sehr schöne Stücke, ist da nicht auch ein großer Diamant da­bei?« fragte ich.

»Ja, so ist es«, erwiderte Miss Marvell recht kurz angebunden. Ich hörte, wie Poirot leise vor sich hin murmelte: »Ah, c'est comme pa!« Laut sagte er - in seiner üblichen Taktik, den Stier bei den Hörnern zu packen (er selber pflegte es Psychologie zu nennen): »Dann sind Sie sicher mit Lady Yardly bekannt? Oder kennt sie Ihr Gatte?«

»Gregory lernte sie kennen, als sie vor drei Jahren in Amerika war«, sagte Miss Marvell. Einen Augenblick lang zögerte sie und fuhr dann fort:

»Liest einer von Ihnen die Zeitung Gesellschaftsklatsch?« Wir mußten beide schamvoll zugeben, daß wir sie gelegentlich aus Berufsgründen lasen.

»Ich frage, weil in der letzten Nummer ein Artikel über be­rühmte Juwelen erschienen ist, und es ist wirklich komisch -« Sie unterbrach sich.

Ich stand auf, ging zu dem Tisch am anderen Ende des Zim­mers und kehrte mit der fraglichen Nummer zurück. Sie nahm sie mir ab, schlug den Artikel auf und fing an, laut vorzulesen:

In die Reihe der berühmten Steine muß man den Star of the East einbeziehen, einen Diamanten im Besitz der Familie Yardly. Ein Vorfahre des jetzigen Lord Yardly hat ihn aus China mitgebracht, und es wird behauptet, mit ihm sei eine romantische Geschichte verknüpft. Danach soll der Stein früher das rechte Auge einer Tempelgottheit gewesen sein. Ein anderer Diamant, völlig gleich in Form und Schönheit, bildete das linke Auge, und die Sage berichtet, daß auch dieser Diamant im Laufe der Zeit gestohlen würde. Das eine Auge wird nach Westen gehen, das andere nach Osten, so lange, bis sie sich wieder begegnen. Dann wer­den sie im Triumphzug zu ihrer Gottheit zurückgeleitet werden! Es ist ein merkwürdiger Zufall, daß augenblicklich ein Stein, der beinahe völ­lig mit dem oben beschriebenen übereinstimmt, in England ist, und zwar der Star of the West oder Western Star! Er ist im Besitz der berühmten Filmschauspielerin Miss Mary Marvell. Ein Vergleich der beiden Steine wäre sehr interessant.

»Epatant!« murmelte Poirot. »Zweifellos eine höchst romanti­sche Geschichte.« Er wandte sich an Mary Marvell. »Und Sie haben keine Angst, Madame? Sie sind nicht abergläubisch? Sie haben keine Bedenken, diese siamesischen Zwillinge zusam­menzubringen? Wenn nun plötzlich ein Chinamann auftaucht und, hey presto, die beiden Steine nach China abtransportiert?« Sein Ton war leicht spöttisch, ich hörte aber trotzdem heraus, daß er es im Grunde ernst meinte. »Ich glaube nicht, daß Lady Yardlys Diamant auch nur annä­hernd so gut ist wie meiner«, sagte Miss Marvell. »Aber ich werde es ja sehen.«

Was Poirot darauf erwidern wollte, kann ich nicht sagen, denn die Tür flog auf, und herein trat ein blendend aussehender Mann. Vom Scheitel bis zur Sohle sah er wie der Held aus, in den die Mädchen sich vom Heck weg verliebten. »Ich habe dir doch versprochen, Mary, daß ich dich abholen würde - da bin ich«, sagte Gregory Rolf. »Was sagt denn Monsieur Poirot zu unserer kleinen Geschichte? Ist er dersel­ben Ansicht wie ich, daß sich jemand ein Späßchen mit uns er­laubt?«

Poirot lächelte den stattlichen Schauspieler an. Sie bildeten ei­nen komischen Kontrast, die beiden. »Späßchen oder nicht, Mr. Rolf«, erwiderte er trocken. »Ich habe Ihrer Frau Gemahlin geraten, am Freitag den Stein nicht mit nach Schloß Yardly zu nehmen.«

»Ich bin völlig Ihrer Meinung, Sir, und ich habe es Mary auch schon mehrere Male gesagt. Aber Sie wissen ja, sie ist eine ty­pische Frau, und der Gedanke, daß eine andere schönere Ju­welen hat als sie selbst, ist ihr unerträglich.« »Was für'n Unsinn!« sagte Mary Marvell scharf. Vor Unwillen bekam sie rote Flecken im Gesicht Poirot hob die Schultern.

»Madame, ich habe Ihnen geraten. Mehr kann ich nicht sagen. C'est fini!« -...

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