Agatha Christie
Rächende Geister
Zweiter Monat der Überschwemmung – Zwanzigster Tag
Renisenb blickte über den Nil. Aus der Ferne vernahm sie die lauten Stimmen ihrer Brüder Yahmose und Sobek, die sich darüber stritten, ob die Dämme an einer bestimmten Stelle verstärkt werden müßten. Sobeks Stimme klang hoch und zuversichtlich wie immer. Er hatte die Angewohnheit, seinen Standpunkt mit leichter Sicherheit zu vertreten. Yahmoses Stimme, die tief und murrend klang, drückte Zweifel und Besorgnis aus. Yahmose sorgte sich stets um irgend etwas. Er war der älteste Sohn, und während der Abwesenheit des Vaters lag die Leitung des Besitzes mehr oder weniger in seinen Händen. Yahmose war langsam, bedachtsam und neigte dazu, Schwierigkeiten zu sehen, wo gar keine bestanden. Er war ein vierschrötig gebauter Mann, der sich langsam bewegte, und dem es an Sobeks Fröhlichkeit und Vertrauensseligkeit gänzlich mangelte.
Seit ihrer frühesten Kindheit erinnerte sich Renisenb der Streitigkeiten zwischen den beiden älteren Brüdern, die sich stets im gleichen Tonfall abspielten. Das vermittelte ihr plötzlich ein Gefühl der Sicherheit. Sie war daheim. Ja, sie war heimgekehrt … Doch als sie abermals über den schimmernden Fluß blickte, erhoben sich Schmerz und Aufruhr erneut in ihr. Khay, ihr junger Gatte war tot … Khay mit dem lachenden Gesicht und den starken Schultern. Khay befand sich bei Osiris im Reich der Toten … und sie, Renisenb, sein zärtlich geliebtes Weib, war einsam zurückgeblieben. Acht Jahre hatten sie miteinander verbracht – fast als Kind noch war sie zu ihm gekommen –, und jetzt war sie mit dem Kind Khays, Teti, in ihr Vaterhaus zurückgekehrt. Sie wollte diese acht Jahre vergessen – so erfüllt von unausdenkbarem Glück, so zerstört durch Verlust und Schmerz. Ja, sie wollte sie vergessen und wieder Renisenb werden, des Ka-Priesters Imhotep Tochter, ein sorgloses, gefühlloses Mädchen. Diese Liebe eines Gatten war etwas Grausames gewesen, das sie mit seiner Süßigkeit getäuscht hatte. Sie dachte an die starken Bronzeschultern, an den lachenden Mund – jetzt war Khay einbalsamiert, von Bändern umhüllt, geschützt durch Amulette auf seiner Reise durch die andere Welt.
Renisenb dachte: »Ich will nicht daran denken. Es ist vorbei! Ich bin wieder daheim. Alles ist wie früher. Teti hat bereits vergessen. Sie spielt mit den anderen Kindern und lacht.«
Unvermittelt wandte Renisenb sich ab und kehrte zum Haus zurück. Unterwegs kam sie an einigen Eseln vorbei, die zum Flußufer getrieben wurden. Sie ging an den Kornspeichern und Nebengebäuden vorüber und trat durch das Tor in den Hof. Im Hof war es sehr hübsch. Da gab es einen künstlichen See, umgeben von blühendem Oleander und Jasmin und beschattet von Sykomoren. Teti und die anderen Kinder spielten jetzt hier; sie liefen unter schrillem Geschrei in den kleinen Pavillon, der auf der einen Seite des Sees stand, und wieder heraus. Renisenb bemerkte, daß Teti mit einem hölzernen Löwen spielte, dessen Maul sich mittels einer Schnur öffnen und schließen ließ – ein Spielzeug, mit dem sie selbst als Kind sich gern beschäftigt hatte. Sie dachte abermals: »Ich bin heimgekehrt …« Nichts hatte sich hier verändert, alles war wie früher. Hier war das Leben sicher, beständig, unwandelbar.
Ein Ball, mit dem die andern Kinder spielten, rollte ihr vor die Füße; sie hob ihn auf und warf ihn lachend zurück. Sie schritt auf den Hauseingang mit seinen fröhlich bemalten Säulen zu, ging dann durch die große Hauptkammer mit dem aufgemalten Fries von Lotos- und Mohnblüten und weiter zum Frauenquartier im rückwärtigen Teil des Hauses.
Aufgeregte Stimmen drangen an ihr Ohr, und sie blieb wieder stehen, voll Vergnügen den altvertrauten Lauten lauschend. Satipy und Kait, die sich wie immer stritten! Wie gut erinnerte sie sich der hohen, alles übertönenden Stimme Satipys! Satipy war das Weib ihres Bruders Yahmose, eine große, tatkräftige, laute Frau, auf ihre harte, herrische Weise eine schöne Frau. Sie redete dauernd in selbstbewußtem Ton, hetzte die Diener herum, fand an allem etwas zu tadeln und erreichte durch Gewaltsamkeit und Schmähen die unmöglichsten Dinge. Jedermann fürchtete ihre Zunge und beeilte sich, ihren Befehlen zu gehorchen. Yahmose selbst hegte die größte Bewunderung für sein resolutes, feuriges Weib und ließ sich von ihr oft in einer Weise befehlen, die Renisenb häufig aufgebracht hatte.
Bisweilen, wenn Satipy eine Pause machte, wurde Kaits ruhige, eigensinnige Stimme hörbar. Kait war eine breitgebaute, häßliche Frau, das Weib des schönen, fröhlichen Sobek. Sie liebte ihre Kinder über alles und sprach selten von etwas anderem. Bei den täglichen Streitigkeiten mit der Schwägerin vertrat sie ihren Standpunkt einfach dadurch, daß sie immer die gleichen Worte mit ruhiger, unerschütterlicher Hartnäckigkeit wiederholte. Nie geriet sie in Hitze oder Leidenschaft, und nie betrachtete sie eine Frage von einem anderen Gesichtspunkt aus als von ihrem eigenen. Sobek hing sehr an seiner Frau und berichtete ihr offen von all seinen Angelegenheiten, weil er sicher war, daß sie sich an nichts Unbequemes mehr erinnern würde, da sie beim Zuhören im Geist doch stets bei einer Frage weilte, die mit den Kindern zusammenhing. »Es ist eine Schande, jawohl!« rief Satipy. »Wenn Yahmose nur den Verstand einer Maus hätte, würde er es keinen Augenblick dulden! Wer hat die Verantwortung, wenn Imhotep fort ist? Yahmose! Und als Yahmoses Weib sollte ich als erste die Matten und Kissen wählen dürfen. Dieses Flußpferd von einem schwarzen Sklaven sollte …«
Kaits schwerfällige, tiefe Stimme fiel ein: »Nein, nein, meine Kleine, du mußt nicht die Haare deiner Puppe essen. Schau, hier hast du etwas Besseres … oh, wie gut!«
»Du bist sehr unhöflich, Kait. Du hörst mir nicht einmal zu, du antwortest nicht. Dein Benehmen ist unmöglich.«
»Das blaue Kissen hat von jeher mir gehört. Ach, sieh nur die kleine Ankh … sie versucht zu laufen …«
»Du bist so dumm wie deine Kinder, Kait. Aber du kommst mir so nicht davon. Ich will mein Recht, das sage ich dir.«
Renisenb wollte gerade weitergehen, als sie leise Schritte hinter sich hörte. Erschrocken drehte sie sich um, und da erblickte sie mit dem altvertrauten Gefühl der Abneigung Henet.
Henet hatte ihr mageres Gesicht zu dem üblichen halb kriecherischen Lächeln verzogen. »Es hat sich nichts geändert, wirst du wohl denken, Renisenb«, sagte sie. »Wie wir alle Satipys Zunge ertragen, weiß ich nicht! Natürlich kann Kait ihr entgegentreten. Einige von uns sind nicht so glücklich! Ich kenne meinen Platz – ich weiß, wie dankbar ich deinem Vater sein muß, daß er mir ein Heim, Nahrung und Kleidung gibt. Oh, er ist ein guter Mann, dein Vater. Und ich habe mich stets bemüht, zu tun, was ich vermag. Ich arbeite immerzu, greife da und dort zu, und ich erwarte keinen Dank. Wenn deine liebe Mutter noch lebte, wäre alles anders. Sie wußte mich zu würdigen. Wie Schwestern waren wir! Eine schöne Frau war sie. Nun, ich habe meine Pflicht getan und das ihr gegebene Versprechen gehalten. ›Sorge für die Kinder, Henet‹, sagte sie, als sie im Sterben lag. Und ich habe mein Wort getreulich gehalten. Abgerackert habe ich mich für euch alle und nie einen Dank verlangt. Nie verlangt und nie erhalten! ›Es ist ja nur die alte Henet‹, heißt es von mir, ›sie zählt nicht.‹ Niemand denkt jemals an mich. Warum auch? Ich versuche bloß, mich nützlich zu machen, weiter nichts.«
Wie ein Aal schlüpfte sie unter Renisenbs Arm durch und trat in das innere Zimmer. »Was das Kissen betrifft, Satipy, so entschuldige bitte, aber zufällig hörte ich Sobek sagen …«
Renisenb entfernte sich. Sonderbar, wie sie alle eine Abneigung gegen Henet hegten! Das lag wohl an ihrer klagenden Stimme, ihrem beständigen Mitleid mit sich selbst und ihrer Leidenschaft, Streitigkeiten zu schüren.
Nun ja, dachte Renisenb, irgendein Vergnügen mußte man Henet schließlich lassen. Es stimmte, daß sie sich abrackerte, und daß niemand ihr Dankbarkeit bezeigte. Man konnte Henet nicht dankbar sein – sie wies selbst auf ihre Verdienste hin, so daß jegliches wärmere Gefühl, das man für sie empfinden mochte, erkaltete. Henet gehörte zu den Menschen, deren Schicksal es war, sich für andere aufzuopfern und niemand zu haben, der sich für sie aufopferte. Sie war reizlos und außerdem dumm. Doch wußte sie stets, was vor sich ging. Ihr geräuschloser Gang, ihre scharfen Ohren und ihre flinken, spähenden Augen sorgten dafür, daß ihr kein Geheimnis verborgen blieb. Manchmal behielt sie ihr Wissen für sich; zu anderen Malen aber ging sie tuschelnd von einer Person zur anderen und beobachtete dann aus dem Hintergrund voll Entzücken die Ergebnisse ihrer Klatschereien. Irgendwann einmal hatte schon jeder im Haus Imhotep gebeten, Henet fortzuschicken, doch Imhotep wollte nichts davon hören. Er war vielleicht der einzige Mensch, der sie gern hatte; und sie entgalt ihm seine Gönnerschaft mit einer schrankenlosen Ergebung, die die übrige Familie widerlich fand.
Einen Augenblick stand Renisenb unschlüssig; dann ging sie langsam in die kleine Kammer, wo ihre Großmutter, Esa, sich in Gesellschaft von zwei kleinen schwarzen Sklavinnen befand. Sie war gerade damit beschäftigt, einige Linnengewänder zu untersuchen, und sie schalt die Mädchen auf ihre kennzeichnende freundliche Art.
Ja, alles war wie früher. Unbemerkt stand Renisenb da und lauschte. Die alte Esa war ein wenig eingeschrumpft, weiter nichts. Aber ihre Stimme hatte sich nicht verändert, und sie sagte das gleiche, beinahe Wort für Wort, wie vor acht Jahren, ehe Renisenb die Heimat verließ …
Renisenb schlüpfte wieder hinaus. Weder die alte Frau noch die beiden kleinen Sklavinnen hatten sie bemerkt. Eine Weile blieb sie vor der offenen Küchentür stehen. Ein Geruch von gebratenen Enten; lautes Lachen und Schelten durcheinander; ein Berg von Gemüse, der auf Zubereitung wartete … Frauenstimmen von überallher. Ein Haus voller Frauen, die nie ruhig, nie friedlich waren, die fortwährend redeten, aber nichts taten!
Renisenb trat rasch wieder aus dem Haus in die heiße, klare Stille. Sie sah Sobek von den Feldern zurückkommen, und in der Ferne gewahrte sie Yahmose; beide gingen zum Grab hinauf. Sie bog in den Pfad ein, der zu den Kalksteinfelsen führte, wo die Grabstätte lag. Es war das Grab des großen Edlen Meriptah, das ihr Vater als Totenpriester zu hüten hatte. Der ganze Besitz und das Land ringsum gehörten zu der Grabstiftung. Während der Abwesenheit ihres Vaters übernahm ihr Bruder Yahmose die Pflichten des Ka-Priesters. Als Renisenb oben anlangte, traf sie Yahmose im Gespräch mit Hori, dem Geschäftsverwalter ihres Vaters, in einer kleinen Felsenkammer neben dem Eingang zur Grabkammer. Hori hatte eine Papyrusrolle über den Knien ausgebreitet, und er und Yahmose beugten sich darüber.
Sowohl Yahmose als auch Hori lächelten, als Renisenb hinzukam, und sie ließ sich in ihrer Nähe im Schatten nieder. Sie hatte ihren Bruder Yahmose von jeher geliebt. Er war freundlich und liebevoll zu ihr und hatte ein sanftes Gemüt. Auch Hori war auf seine ernste Weise zu der kleinen Renisenb stets gütig gewesen und hatte ihr öfters ihr Spielzeug instand gesetzt. Er war ein herber, schweigsamer junger Mann gewesen, als sie fortging. Renisenb fand, daß er sich kaum verändert hatte, obwohl er älter geworden war.
Während Yahmose und Hori über den Tauschhandel von Gerste und Öl berieten, blieb Renisenb stillzufrieden im Hintergrund sitzen. Nach einer Weile entfernte sich Yahmose. Plötzlich berührte Renisenbs Hand eine Papyrusrolle, und sie fragte: »Ist das von meinem Vater?«
Hori nickte.
»Was steht darin?« erkundigte sie sich neugierig. Sie rollte den Papyrus auf und betrachtete die Zeichen, die in ihren unkundigen Augen nichts sagten.
Mit einem leichten Lächeln beugte Hori sich über ihre Schulter, und sein Finger fuhr den Schriftzeichen nach, während er vorlas: »Der Ka-Diener Imhotep sagt: Möge euch Gesundheit beschieden sein wie denen, die lange leben. Mögen die Götter euch schirmen. Der Sohn spricht zu seiner Mutter, der Ka-Diener zu seiner Mutter Esa: Lebst du in Gesundheit und Sicherheit? Meinem Sohn Yahmose: Lebst du in Gesundheit und Sicherheit? Bebaue mein Land nach allen Kräften. Werke und arbeite bis zum äußersten. Siehe, wenn du fleißig bist, will ich die Götter loben …«
Renisenb lachte: »Der arme Yahmose! Er arbeitet sicherlich hart genug.«
Die Ermahnung des Vaters ließ den Priester lebhaft vor ihren Augen erstehen – seine würdige Erscheinung, seine leicht zur Übertreibung neigenden Mahnreden und dauernden Anweisungen.
Hori fuhr fort: »Achte sorgsam auf meinen Ipy. Ich höre, daß er unzufrieden ist. Sieh auch darauf, daß Satipy Henet gut behandelt. Vergiß nicht, über Flachs und Öl zu berichten. Achte auf das Wachstum meines Kornes, achte auf alles, was mein ist; denn ich werde dich zur Rechenschaft ziehen. Wenn mein Land überflutet wird, wehe dir und Sobek.«
»Mein Vater ist genau wie früher«, sagte Renisenb beglückt. »Immer denkt er, daß nichts recht getan wird, wenn er nicht hier ist.«
Hori antwortete nicht; er nahm einen Papyrus und begann zu schreiben. Eine Zeitlang sah Renisenb ihm zu, dann bemerkte sie träumerisch: »Es wäre wohl fesselnd, schreiben zu können. Warum lernen es nicht alle Menschen?«
»Das ist nicht nötig.«
»Vielleicht nicht nötig, aber es wäre angenehm.«
»Glaubst du, Renisenb? Was für einen Unterschied würde es für dich bedeuten?«
Renisenb überlegte, ehe sie antwortete: »Wenn du mich so fragst, Hori, dann weiß ich es wirklich nicht.«
Hori sagte: »Jetzt werden auf einem großen Besitztum wenige Schreibkundige gebraucht, aber der Tag wird kommen, da es in Ägypten Scharen von Schreibkundigen gibt.«
»Das wird gut sein«, sagte Renisenb.
»Ich bin nicht so sicher«, gab Hori zurück.
Renisenb betrachtete ihn forschend. Dann erwiderte sie bedächtig: »Ich glaube, ich weiß, was du meinst. Nur die Dinge, die man sehen und berühren und essen kann, sind wirklich. Es bedeutet nichts, niederzuschreiben: ›Ich habe zweihundertvierzig Scheffel Gerste‹, wenn man sie nicht tatsächlich hat. Man könnte Lügen schreiben.«
Hori lächelte über ihre ernste Miene. Ganz unvermittelt sagte Renisenb: »Du hast mir einst meinen Löwen wieder instand gesetzt, erinnerst du dich?«
»Ja, ich erinnere mich, Renisenb.«
»Jetzt spielt Teti damit … Es ist derselbe Löwe.« Sie machte eine Pause, dann fuhr sie schlicht fort: »Als Khay zu Osiris ging, war ich sehr traurig. Doch nun bin ich heimgekehrt, und ich werde wieder glücklich sein und vergessen – denn hier ist alles wie früher. Nichts, gar nichts hat sich geändert.«
»Glaubst du das wirklich?«
Renisenb blickte ihn forschend an. »Was meinst du damit, Hori?«
»Ich meine, daß es immer Veränderungen gibt. Acht Jahre sind acht Jahre.«
»Nein, nein, ich möchte, daß alles wie früher ist!«
»Aber du selbst bist ja auch nicht mehr die gleiche Renisenb, die mit Khay fortging.«
»O doch! Und wenn nicht, so werde ich sie bald wieder sein. Und du bist derselbe geblieben, Hori.«
»Das denkst du nur, aber es stimmt nicht.«
»Doch, doch und Yahmose ist der gleiche geblieben, so sorgenvoll und behutsam. Satipy befiehlt ihm wie früher, und sie und Kait haben ihren üblichen Streit, und dann versöhnen sie sich wieder lachend; Henet schleicht lauschend umher und gebärdet sich unterwürfig, und meine Großmutter macht ein Aufhebens um ein Stück Linnen! Genau wie früher. Und bald wird mein Vater heimkommen, und dann gibt es große Aufregung, und er wird sagen: ›Warum hast du dieses getan und jenes unterlassen?‹ Yahmose wird bekümmert dreinblicken, und Sobek wird frech darüber lachen. Mein Vater wird den jetzt sechzehnjährigen Ipy verwöhnen, wie er ihn verwöhnt hat, als er acht Jahre alt war, und nichts wird verändert sein!« Atemlos hielt sie inne.
Hori seufzte. Dann entgegnete er freundlich: »Du begreifst nicht, Renisenb. Es gibt das Übel, das von außen kommt, das sichtbar ist, wenn es angreift, aber es gibt auch noch eine andere Verderbnis, die innerlich ausgebrütet wird, die sich äußerlich nicht zeigt. Sie wächst langsam, Tag für Tag, bis schließlich die ganze Frucht verfault ist, von Krankheit zerfressen.«
Renisenb starrte ihn an. »Was meinst du eigentlich? Was ist dieses Übel, von dem du sprichst?«
Er sah sie an, und plötzlich lächelte er. »Vergiß, was ich sagte, Renisenb. Ich dachte an die Krankheiten, die die Früchte des Feldes befallen.«
Sie stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. »Ich bin froh. Ich dachte … ach, ich weiß nicht, was ich dachte.«
Dritter Monat der Überschwemmung – Vierter Tag
Satipy sprach mit Yahmose. Ihre Stimme hatte einen schrillen Klang und wechselte selten den Ton. »Du mußt dich behaupten! Das sage ich. Du wirst nie etwas taugen, wenn du dich nicht behauptest. Dein Vater befiehlt dieses und jenes und macht dir Vorwürfe, wenn du etwas unterlassen hast. Und du hörst ihm widerspruchslos zu, entschuldigst dich, weil etwas nicht getan worden ist – etwas, das oft ganz unmöglich zu machen wäre! Dein Vater behandelt dich wie ein Kind, wie einen Knaben! Als ob du so alt wie Ipy wärst.«
»Mein Vater behandelt mich keineswegs wie Ipy.«
»Das stimmt.« Satipy griff den neuen Gegenstand mit erneuter Kraft auf. »Er ist ganz vernarrt in den verwöhnten Jungen! Mit jedem Tag wird Ipy unerträglicher. Er stolziert umher, rührt keine Hand und gibt sich den Anschein, als ob alles, was von ihm gefordert wird, zu schwer für ihn wäre! Es ist eine Schande. Und all das, weil er weiß, daß dein Vater immer seine Partei ergreifen wird. Du und Sobek, ihr solltet dagegen auftreten.« Yahmose zuckte die Schultern. »Was würde das nützen?«
»Du machst mich wahnsinnig, Yahmose – das sieht dir ähnlich! Du hast keinen Mut. Du bist schwach wie ein Weib. Allem, was dein Vater sagt, stimmst du zu!«
»Ich liebe meinen Vater sehr.«
»Ja, und damit rechnet er! Alle Schmach nimmst du immer auf dich und tust Abbitte für Dinge, die gar nicht durch deine Schuld entstanden sind! Du solltest widersprechen wie Sobek. Sobek fürchtet sich vor keinem Menschen!«
»Ja, aber vergiß nicht, Satipy, daß mein Vater mir vertraut, nicht Sobek. Mein Vater erlegt Sobek keine Verantwortung auf. Alles bleibt meiner Entscheidung überlassen.«
»Und darum solltest du endlich eine führende Stellung einnehmen! Es ist nicht recht, daß du immer noch wie ein Kind behandelt wirst. Du solltest Teilhaber, Mitbesitzer werden.«
»Mein Vater möchte die Zügel in der Hand behalten«, sagte Yahmose zweifelnd.
»Das ist’s. Alles soll von ihm abhängen – von seiner augenblicklichen Laune. Schlimm ist das, und es wird immer schlimmer. Wenn er diesmal heimkommt, mußt du ihm kühn zusetzen – du mußt auf einer schriftlichen Vereinbarung bestehen, durch die du in eine rechtsgültig führende Stellung versetzt wirst.«
»Er würde mich nicht anhören.«
»Du mußt ihn eben dazu zwingen. Oh, wenn ich doch ein Mann wäre! Ich an deiner Stelle wüßte, was ich zu tun hätte. Manchmal ist es mir, als wäre ich mit einem Wurm verheiratet.«
Yahmose errötete: »Ich will schauen, was sich tun läßt. Vielleicht könnte ich meinen Vater bitten …«
»Nicht bitten – du mußt fordern! Schließlich bist du der einzige, dem er die Verantwortung übertragen kann. Sobek ist zu unbändig, dein Vater vertraut ihm nicht, und Ipy ist noch zu jung.«
»Du vergißt Hori.«
»Hori gehört nicht zur Familie. Dein Vater gibt etwas auf sein Urteil, aber die Verantwortung würde er nur seinem eigenen Fleisch und Blut übertragen. Aber ich sehe, wie es sich verhält – du bist zu schwach und sanft, du hast Milch in den Adern, kein Blut! Du denkst weder an mich noch an deine Kinder. Erst wenn dein Vater tot ist, werden wir eine richtige Stellung einnehmen.«
Yahmose sagte düster: »Du verachtest mich, Satipy, nicht wahr?«
»Du erweckst Zorn in mir.«
»Höre, ich will mit meinem Vater sprechen, wenn er zurückkommt. Ich verspreche es dir.«
Satipy murmelte: »Ja, aber wie wirst du sprechen? Wie ein Mann oder wie eine Maus?«
Kait spielte mit ihrem jüngsten Kind, der kleinen Ankh. Das Kind lernte laufen, und Kait ermunterte es mit fröhlichen Zurufen, während sie mit ausgestreckten Armen vor ihm kniete.
Kait wollte Sobek zeigen, was Ankh schon gelernt hatte, aber sie merkte plötzlich, daß er nicht achtgab, sondern mit gerunzelter Stirn vor sich hinstarrte. »Oh, Sobek, du siehst ja gar nicht zu. Schau doch her!«
Sobek gab gereizt zurück: »Ich habe andere Sorgen.« Kait kauerte nieder und strich sich das Haar aus dem Gesicht. »Wieso? Gibt es etwas?« fragte sie mechanisch.
»Mich bekümmert es, daß man mir kein Vertrauen schenkt«, erwiderte Sobek ärgerlich. »Mein Vater ist ein alter Mann mit veralteten Anschauungen, und er besteht darauf, jede Kleinigkeit zu befehlen. Er will nichts meinem Urteil überlassen.«
Kopfschüttelnd sagte Kait leise: »Ja, ja, das ist schade.«
»Wenn nur Yahmose etwas mehr Mut hätte und mich unterstützen würde! Aber Yahmose ist zu zaghaft. Er führt jede Anweisung meines Vaters ganz genau aus.«
Kait hielt dem Kind einige Perlen hin und murmelte: »Ja, das ist wahr.«
»Was diese Angelegenheit mit dem Holzverkauf betrifft, so werde ich meinem Vater sagen, daß ich selbständig vorgegangen bin. Es war viel vernünftiger, den Preis in Flachs und nicht in Öl festzusetzen.«
»Ich bin sicher, daß du recht hast.«
»Aber mein Vater will immer, daß alles nach seinem Kopf geht. Er wird ein Geschrei erheben: ›Ich habe dir gesagt, daß der Verkaufspreis in Öl festgesetzt werden soll. Du bist ein törichter Knabe, der nichts weiß!‹ Für wie alt hält er mich eigentlich? Um Reichtum zu er...
lezynski1