Bellamy, Edward--das-jahr-2000.pdf

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Edward Bellamy - Das Jahr 2000 – Ein Rückblick auf das Jahr 1887 (1888)
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Inhalt
Vorrede
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechszehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Vierundzwanzigstes Kapitel
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Sechsundzwanzigstes Kapitel
Siebenundzwanzigstes Kapitel
Achtundzwanzigstes Kapitel
Vorrede
Abteilung für Geschichte im Shawmut College, Boston, den 28. Dezember 2000.
Wir leben im letzten Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts und genießen die Segnungen einer ebenso einfachen
wie logischen sozialen Ordnung, die lediglich als Triumph des gesunden Menschenverstandes erscheint. Jedoch
denjenigen, welche nicht gründliche geschichtliche Studien gemacht haben, mag der Gedanke fernliegen, daß die
gegenwärtige Organisation der Gesellschaft weniger als hundert Jahre alt ist. Keine geschichtliche Tatsache
stand fester, als der bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts festgehaltene allgemeine Glaube, daß das alte
Gewerbesystem mit all seinen schrecklichen sozialen Folgen, vielleicht mit etwas Flickwerk, bis zum Ende aller
Tage dauern würde. Wie wunderbar und fast unglaublich scheint es doch, daß eine so großartige moralische und
materielle Umgestaltung, wie sie seitdem stattgefunden hat, in einem so kurzen Zeitraum sich vollziehen konnte!
Die Leichtigkeit, mit welcher sich die Menschen an eine Besserung ihrer Lage gewöhnen, die selbst die kühnsten
Hoffnungen übertrifft, könnte nicht besser illustriert werden. Was könnte die Begeisterung der Reformatoren,
welche auf lebhafte Dankbarkeit zukünftiger Jahrhunderte rechnen, gründlicher herabstimmen!
Dieses Schriftchen soll denen eine Hilfe sein, welche zwar einen bestimmten Begriff von den sozialen Gegensät-
zen des 19. und 20. Jahrhunderts sich aneignen möchten, aber durch den Umfang des historischen Materials über
diesen Gegenstand abgeschreckt werden. Meine Erfahrung als Lehrer hat mir gezeigt, daß Lernen als unliebsame
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Anstrengung angesehen wird, deshalb habe ich mich
bemüht, die in dem Buch enthaltenen Lehren in die Form einer romantischen Erzählung zu kleiden, welche, wie
ich hoffe, ihrer selbst wegen, nicht ganz ohne Interesse sein
wird.
Der Leser, welchem die modernen sozialen Einrichtungen und die Grundsätze, auf denen sie beruhen, geläufig
sind, wird bisweilen Dr. Leetes Auseinandersetzungen etwas trocken finden, aber er muß bedenken, daß diesel-
ben dem Gaste des Doktors nicht geläufig waren, und wir müssen ihn bitten, auch einmal zu vergessen, daß sie
es ihm sind. Noch ein Wort. Das fast allgemeine Thema der Schriftsteller und Redner, welche diesen
zweitausendjährigen Zeitraum gefeiert haben, war mehr die Zukunft als die Vergangenheit, nicht die
Verbesserung, die gemacht worden ist, sondern der Fortschritt, der gemacht werden soll, bis das
Menschengeschlecht seine Bestimmung wird erreicht haben. Dies ist ja ganz gut, aber es will mir scheinen, daß
wir nirgends solidere Grundlagen für hohe Erwartungen menschlicher Entwicklung in den nächsten tausend
Jahren finden können, als indem wir einen Rückblick tun auf den Fortschritt der letzten hundert Jahre.
Daß dieses Schriftchen das Glück haben möchte, Leser zu finden, deren Interesse für den Gegenstand sie die
Mängel der Behandlung desselben übersehen läßt, ist die Hoffnung, mit welcher der Verfasser zurücktritt und es
Herrn Julian West überläßt, selbst zu sprechen.
Erstes Kapitel
Ich erblickte das Licht der Welt in der Stadt Boston im Jahre 1857. »Was«, wird der Leser sagen, »achtzehnhun-
dertsiebenundfünfzig? Das ist ein komisches Versehen; er meint natürlich 1957.« Bitte um Entschuldigung, es ist
kein Versehen. Es war etwa um vier Uhr nachmittag am 26. Dezember, einen Tag nach Weihnachten, im Jahre
1857, nicht 1957, daß mir zum ersten Male der Ostwind von Boston um die Nase wehte, welcher, ich versichere
es dem Leser, in dieser grauen Vorzeit ebenso durchdringend war, als in dem gegenwärtigen Jahre des Heils,
2000.
Diese Angaben, namentlich wenn ich noch hinzufüge, daß ich ein junger Mann von anscheinend etwa dreißig
Jahren bin, scheinen offenbar so abgeschmackt, daß es niemand verdacht werden kann, wenn er sich weigert,
auch nur noch ein Wort von dem zu lesen, was eine Zumutung an seine Leichtgläubigkeit zu werden verspricht.
Nichtsdestoweniger versichere ich dem Leser, daß keine Täuschung beabsichtigt ist, und will es auf mich
nehmen, ihn vollständig davon zu überzeugen, wenn er mir ein paar Seiten weiter folgt. Wenn ich also, mit dem
Versprechen die Annahme zu rechtfertigen, annehmen darf, daß ich besser wissen muß als der Leser, wann ich
geboren bin, will ich in meiner Erzählung fortfahren. Wie jeder Schuljunge weiß, gab es gegen Ende des 19.
Jahrhunderts keineswegs eine solche, oder nur eine ähnliche Zivilisation als die heutige, obwohl die Elemente,
aus welcher sie hervor gehen sollte, schon in Gärung begriffen waren. Jedoch war noch nichts geschehen, die seit
undenklichen Zeiten bestehende Einteilung der Gesellschaft in vier Klassen zu mildern: die Reichen und die
Armen, die Gebildeten und die Ungebildeten. Ich war reich und gebildet und vereinigte daher in mir alle
Bedingungen eines Glückes, dessen sich
in jenem Zeitalter die Bevorzugtesten erfreuten. Daß ich in Luxus lebte und nur bemüht war die Vergnügungen
und Verfeinerungen des Lebens zu genießen, verdankte ich der Arbeit anderer und leistete nicht den geringsten
Gegendienst. Meine Eltern und Großeltern hatten ebenso gelebt, und ich hoffte, daß meine Nachkommen, wenn
ich solche haben sollte, sich einer ebenso leichten Existenz erfreuen
würden.
Aber wie konnte ich leben, ohne der Welt zu dienen? wird der Leser fragen. Wie konnte die Welt jemand Unter-
halt gewähren, der nicht arbeitete und doch arbeiten konnte? Die Antwort auf diese Frage ist, daß mein Ur-
großvater ein Vermögen gesammelt hatte, von dem seine Nachkommen lebten. Man wird vermuten, daß das
Vermögen sehr groß gewesen sei, da es durch das Leben dreier Generationen in Untätigkeit nicht aufgezehrt
wurde. Das war jedoch nicht der Fall. Das Vermögen war ursprünglich keineswegs groß. In der Tat war es jetzt,
nachdem drei Generationen untätig davon gelebt hatten, viel größer als anfänglich. Dieses Geheimnis von
Benutzung ohne Verbrauch, von Wärme ohne Verbrennung scheint wie ein Zauber, war aber einfach die
geistvolle Anwendung der, glücklicherweise jetzt verlorengegangenen, von unseren Vorfahren aber zu großer
Vollkommenheit gebrachten Kunst, die Last für jemandes Unterhalt auf die Schultern anderer zu werfen. Der
Mann, der das fertigbrachte, und alle trachteten danach es soweit zu bringen, lebte dann, wie man sagte, von dem
Abwurf seines Vermögens. Es würde uns zu weit führen, hier zu erklären, wie die alten Methoden der Industrie
dies ermöglichten. Ich will nur soviel sagen, daß die Interessen von Kapitalanlagen eine Art Steuer waren,
welche ein Mann, der Geld erworben oder geerbt hatte, von dem Erwerb derer erhob, welche sich mit Industrie
beschäftigten. Man darf nicht glauben, daß ein nach modernen Begriffen so unnatürliches und widersinniges
Verhältnis von unseren Vorfahren niemals getadelt worden wäre. Gesetzgeber und Philanthropen bemühten sich
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von den frühesten Zeiten an, die Zinsen abzuschaffen, oder doch auf möglichst geringes Maß zu beschränken.
All diese Bemühungen sind jedoch mißlungen und mußten notwendigerweise mißlingen, solange die alte soziale
Organisation herrschte. Zu der Zeit, von welcher ich schreibe, also vom Ende des 19. Jahrhunderts, hatten im
allgemeinen die Regierungen den Versuch, die Sache zu regulieren, vollständig aufgegeben.
Um dem Leser einen allgemeinen Begriff davon zu geben, wie die Menschen damals zusammen lebten, na-
mentlich wie das Verhältnis der Reichen und Armen zueinander war, kann ich keinen besseren Vergleich der da-
maligen Gesellschaft finden, als mit einem riesigen Omnibus, an welchen die große Masse des Volkes gespannt
war, um ihn mühsam auf einer bergigen und sandigen Straße hinzuziehen. Der Kutscher war der Hunger, der
keinen Aufenthalt duldete, obgleich es natürlich in einem sehr langsamen Schritt ging. Trotz der Schwierigkeit,
den Omnibus auf dem unebenen Wege im Gange zu halten, war das Dach desselben mit Passagieren besetzt, die
auch bei dem steilsten Anstieg nicht abstiegen. Diese oberen Plätze waren schön luftig und bequem. Sie waren
außerhalb des Bereichs des Staubes und man konnte von dort nach Belieben die Aussicht genießen, oder die
Güte des sich anstrengenden Gespanns besprechen. Natürlich waren diese Plätze sehr gesucht und jedermann
betrachtete es für das höchste Lebensziel, für sich einen Platz oben auf dem Wagen zu sichern und denselben
nachher seinem Kinde abzutreten. Es bestand eine Fahrbestimmung, daß man seinen Platz an eine beliebige
Person abtreten konnte, aber auf der anderen Seite ereigneten sich auch viele Unglücksfälle, durch welche man
seinen Platz verlieren konnte. Denn die Sitze waren zwar sehr bequem, aber auch sehr unsicher und bei jedem
plötzlichen Ruck des Wagens fielen Passagiere von ihren Sitzen auf den Boden, wo sie dann sofort das Seil
anfassen und helfen mußten, den Omnibus, auf dem sie eben so schön gefahren waren, zu ziehen. Es wurde
natürlich als ein großes Unglück angesehen, seinen Platz zu verlieren und die Besorgnis, daß einem selbst, oder
einem seiner Freunde dies begegnen möchte, hing beständig wie eine Wolke über dem Glücksgefühle der
Passagiere.
Aber haben sie nur an sich selbst gedacht? wird man fragen. Ist ihnen ihr Glück nicht verleidet worden durch den
Vergleich desselben mit dem Lose ihrer vorgespannten Brüder und Schwestern und durch das Bewußtsein, daß
deren Mühe durch ihre Last erschwert wird! Hatten sie kein Mitleid mit ihren Mitmenschen, von denen sie sich
nur durch ihr Glück unterschieden? O ja, diejenigen, welche fuhren, sprachen oft ihr Mitleid für diejenigen aus,
welche den Wagen ziehen mußten, namentlich wenn der Omnibus, wie so oft geschah, an eine schlechte Stelle
auf dem Wege, oder an einen besonders hohen Berg kam. Dann boten die verzweifelte Anstrengung des
Gespanns, sein schmerzvolles Bäumen und Springen unter den erbarmungslosen Peitschenhieben des Hungers,
die vielen, welche am Seil zusammenbrachen und in den Kot getreten wurden, einen erbarmenswürdigen
Anblick, der oft anerkennenswerte Gefühlsausbrüche auf dem Dache des Omnibus hervorrief. Dann riefen wohl
die Passagiere den Arbeitern am Seil ermutigend von oben zu, ermahnten sie zur Geduld, und stellten ihnen
Hoffnung auf einen möglichen Ausgleich mit ihrem harten Los in einer besseren Welt in Aussicht, kauften auch
wohl Salben und Balsam für die Beschädigten und Verstümmelten. Man stimmte darin überein, es sei schade,
daß der Wagen so schwer zu ziehen sei und fühlte sich allgemein erleichtert, sooft man besonders schlechte
Stellen des Weges hinter sich hatte. Diese Erleichterung fühlte man natürlich nicht einzig für das Gespann, denn
an solchen schlechten Stellen lag stets die Gefahr nahe, daß der ganze Omnibus umfallen und alle ihre Plätze
verlieren möchten.
Zur Steuer der Wahrheit muß man bekennen, daß der Haupteindruck, den der Anblick des Elends der Arbeiter
am Seile auf die Passagiere machte, der war, daß sie den Wert ihrer Plätze auf dem Wagen erst recht schätzen
lernten, und sich um so verzweifelter festhielten.
Wenn die Passagiere sicher gewesen wären, daß weder sie noch ihre Freunde abgeworfen werden könnten, so
würden sie sich wahrscheinlich verzweifelt wenig um diejenigen, welche den Wagen zogen, gekümmert haben,
außer daß sie sich an den Sammlungen für Salben und Verbandzeug beteiligten.
Es ist mir wohl bewußt, daß dies den Männern und Frauen des 20. Jahrhunderts als unglaubliche Unmensch-
lichkeit erscheinen wird, aber zwei sehr merkwürdige Tatsachen erklären sie wenigstens teilweise. Erstens war
man des festen, aufrichtigen Glaubens, daß es kein anderes Mittel gäbe, die Gesellschaft aufrechtzuerhalten, als
daß die Menge am Seil zog und die Bevorzugten im Wagen fuhren, und nicht dies allein, sondern daß auch keine
radikale Besserung weder am Gespann, noch am Wagen, an dem Wege oder der Verteilung der Arbeit möglich
war. Es sei immer so gewesen und würde immer so sein. Es war ein Jammer, aber man konnte nicht helfen und
es war ein Gebot der Philosophie, an einem Übel, das man nicht heilen konnte, kein Mitleid zu verschwenden.
Die zweite Tatsache ist noch merkwürdiger und besteht in einer eigentümlichen Sinnestäuschung, welche von
allen auf dem Wagen gemeiniglich geteilt wurde, daß sie nämlich mit ihren Brüdern und Schwestern, die am Seil
zogen, nicht ganz gleich, sondern von besserem Ton gemacht seien, in gewisser Beziehung zu einer höheren
Klasse von Wesen gehörten, die mit Recht erwarten dürften, gezogen zu werden. Dies scheint unglaublich, aber
da ich selbst einmal auf diesem Omnibus gefahren bin und dieselbe Sinnestäuschung geteilt habe, sollte ich
Glauben finden. Das sonderbarste bei dieser Täuschung ist, daß diejenigen, welche eben erst vom Boden auf den
Wagen geklettert sind, noch ehe die Schwielen des Seils an ihren Händen verwachsen, ihrem Einflusse verfallen.
Bei denen, deren Eltern und Großeltern schon so glücklich gewesen waren, Plätze oben auf dem Wagen
eingenommen zu haben, war die Überzeugung von einem wesentlichen Unterschied zwischen ihrer Art und der
gewöhnlichen Ware eine vollkommene. Eine solche Täuschung mußte notwendig ein brüderliches Gefühl für die
Leiden der großen Menge in ein philosophisches Mitleid verwandeln. Das ist das Einzige, womit ich meine
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Gleichgültigkeit gegen das Elend meiner Brüder zu der Zeit, von welcher ich schreibe, beschönigen könnte. - Im
Jahre 1887 wurde ich dreißig Jahre alt. Ich war zwar noch unverheiratet, aber mit Edith Bartlett verlobt. Sie fuhr
wie ich oben auf dem Wagen. Das heißt - um nicht länger in einem Bilde zu sprechen, welches hoffentlich
seinen Zweck erreicht, und dem Leser einen Begriff von unserem damaligen Leben gegeben hat -ihre Familie
war reich. In jener Zeit, wo alle Annehmlichkeiten und aller Luxus nur für Geld zu haben waren, genügte es für
ein Mädchen reich zu sein, um Anbeter zu haben, aber Edith Bartlett war auch schön und anmutig. Meine
Leserinnen werden dem widersprechen. »Schön mag sie gewesen sein«, höre ich sie sagen, »aber niemals
anmutig in der Tracht, welche damals Mode war, da die Kopfbedeckung ein schwindelnder Aufbau von einem
Fuß Höhe war, und die fast unglaubliche Ausdehnung des Kleides nach hinten mittelst einer künstlichen
Erfindung, die Gestalt mehr entmenschlichte, als je zuvor die Kunst der Schneider getan hatte. Wer kann in
solcher Tracht anmutig gewesen sein?« Das ist alles richtig und ich kann nur entgegnen, daß, während die
Damen des 20. Jahrhunderts durch angemessene Kleidung die weibliche Anmut in lieblicher Weise zur Geltung
bringen, ihre Urgroßmütter durch keine Unschönheit in der Tracht völlig entstellt werden konnten.
Wir warteten mit unserer Hochzeit nur auf die Vollendung des Hauses, das ich für uns in einem der gesuchtesten
Teile der Stadt bauen ließ, d.h. in einem Teile, der hauptsächlich von den Reichen bewohnt war. Denn man muß
wissen, daß die Annehmlichkeit der Wohnungen in den verschiedenen Teilen von Boston damals nicht von der
Schönheit der Natur, sondern von dem Charakter der Nachbarschaft abhängig war. Jede Klasse wohnte abge-
sondert für sich. Wenn ein Reicher unter Armen, ein Gebildeter unter Ungebildeten wohnte, war es, als ob er iso-
liert unter einem fremden neidischen Volke lebe. Als unser Haus begonnen wurde, erwarteten wir, daß es bis
zum Winter 1886 fertig sein würde. Der Frühling des folgenden Jahres fand es jedoch noch unvollendet und
meine Verheiratung noch ein Ding der Zukunft. Der Grund dieser für einen feurigen Liebhaber doppelt
unangenehmen Verzögerung lag in verschiedenen Streiks, d.h. verabredeten Arbeitsverweigerungen von seiten
der Maurer, Steinhauer, Zimmerleute, Maler, Gasarbeiter und anderer Handwerker, die am Bau beschäftigt
waren. Ich erinnere mich nicht, was die einzelnen Ursachen dieser Streiks waren. Sie waren damals so allgemein
geworden, daß man gar nicht mehr nach den Ursachen fragte. In einem oder dem anderen Zweige der Industrie
hörten sie seit der großen Geschäftskrisis von 1873 fast gar nicht auf. In der Tat war es eine Ausnahme, wenn
man eine Klasse von Arbeitern ihre Beschäftigung länger als ein paar Monate stetig ausführen sah.
Der Leser, welcher die angegebenen Zeitpunkte im Auge hat, wird natürlich in diesen Störungen der Industrie
den ersten lockeren Zusammenhang der großen Bewegung erkennen, welche in der Gründung des modernen
Systems mit all seinen sozialen Folgen endete. Dies ist so klar, wenn man zurückblickt, daß es jedes Kind
verstehen kann; aber wir, die wir damals lebten, waren keine Propheten und hatten keinen klaren Begriff von
dem, was sich bei uns ereignete. Wir sahen nur, daß die Industrie des Landes in einem wunderlichen Zustande
war. Das Verhältnis zwischen Arbeitern und Arbeitgebern, zwischen Arbeit und Kapital schien in einer
unerklärlichen Weise verschoben. Die arbeitenden Klassen waren ganz plötzlich und allgemein von einer
gründlichen Unzufriedenheit mit ihrer Lage, von dem Gedanken befallen, daß sie wesentlich gebessert werden
könnte, wenn man nur wüßte, wie man's anfangen sollte.
Auf allen Bauplätzen erhoben sie einstimmig Forderungen um höheren Lohn, kürzere Arbeitszeit, bessere Woh-
nungen und Schulen und Anteil an den verfeinerten Lebensgenüssen, Forderungen, von denen man nicht sah,
wie man sie bewilligen konnte, solange nicht die Welt viel reicher wurde, als sie damals war. Sie wußten wohl,
was sie wollten, aber nicht, wie sie es erreichen sollten, und die ungestüme Begeisterung, mit der sie sich um
jeden scharten, der ihnen möglicherweise Aufklärung darüber geben konnte, verlieh manchem, der gern ihr
Führer hätte sein mögen und der doch wenig Aufklärung zu geben wußte, einen ephemeren Ruhm. Für wie
eingebildet man auch die Hoffnungen der arbeitenden Klassen halten mochte, so ließen doch die Hingebung, mit
welcher sie sich gegenseitig bei ihren Streiks, die einzige Waffe, die sie hatten, unterstützten, und die Opfer, die
sie sich auferlegten, um sie durchzuführen, keinen Zweifel darüber, daß sie es bitter ernstlich meinten. Was aus
diesen Arbeiterunruhen, wie diese Bewegung gewöhnlich genannt wurde, werden sollte, darüber schwankten die
Ansichten der Leute meiner Klasse je nach ihrer individuellen Verfassung. Die Sanguiniker behaupteten sehr
entschieden, es liege in der Natur der Dinge, daß die Verwirklichung der neuen Hoffnungen der Arbeiter
unmöglich sei, weil ganz einfach die Welt nicht die Mittel dazu hätte. Nur weil die Menge tüchtig arbeite und
schmale Kost genieße, sei das Menschengeschlecht noch nicht verhungert, und es sei keine Besserung von
irgendwelchem Belang möglich, solange die Welt im Ganzen so arm bleibe. Wer weniger sanguinisch dachte,
gab das alles zu. Die Hoffnungen der Arbeiter konnten aus natürlichen Gründen unmöglich erfüllt werden, aber
man hatte Grund zu fürchten, sie würden das erst erkennen, wenn sie die Gesellschaft auf den Kopf gestellt
hätten. Sie hatten Stimmen und Gewalt genug, dies zu tun, wenn sie wollten, und ihre Führer reizten sie dazu an.
Einige furchtsame Beobachter prophezeiten sogar eine soziale Sintflut. Die Menschheit, sagten sie, habe die
höchste Sprosse der Zivilisation erstiegen, sei im Begriff, kopfüber in das Chaos zu stürzen, dann würde sie
wieder aufstehen, sich herumdrehen und von neuem zu steigen beginnen. Wiederholte derartige Erfahrungen in
geschichtlicher und vorgeschichtlicher Zeit seien möglicherweise der Grund für die unerklärlichen Beulen an der
menschlichen Hirnschale. Die Geschichte der Menschheit sei, wie alle großen Bewegungen, zyklisch und kehre
immer wieder zum Ausgangspunkt zurück. Die Idee von einem unendlichen Fortschritt in gerader Linie sei ein
Trugbild der Einbildung und habe in der Natur keine Analogie. Die Parabel einer Kometenbahn sei vielleicht
eine bessere Illustration vom Lebenslauf der Menschheit. Sie sei aus dem Aphel des Barbarismus auf zu dem
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Perihel der Zivilisation gestiegen, nur um sich wieder hinab in die Regionen des Chaos zu stürzen. Dies war
natürlich eine extreme Ansicht, aber ich erinnere mich, daß sonst ernste Männer meiner Bekanntschaft einen
ähnlichen Ton anschlugen, wenn die Zeichen der Zeit besprochen wurden. Zweifellos glaubten kluge Männer,
daß die Gesellschaft einer kritischen Periode entgegengehe, welche große Veränderungen im Gefolge haben
könne. Die Arbeiterunruhen, ihre Ursachen, ihr Verlauf und ihre Abhilfe nahmen in der Presse und in ernster
Unterhaltung den ersten Platz ein.
Die Aufregung erreichte ihren Höhepunkt, als eine kleine Bande von Männern, die sich Anarchisten nannten, das
amerikanische Volk durch Drohungen und Gewalt zwingen wollten, ihre Grundsätze anzunehmen, als wenn eine
große Nation, die eben erst eine Empörung ihrer einen Hälfte erdrückt hatte, um ihr politisches System auf-
rechtzuerhalten, aus Furcht so leicht ein neues soziales System annehmen würde!
Da ich reich und bei der bestehenden Ordnung der Dinge stark beteiligt war, teilte ich natürlich die Befürch-
tungen meiner Klasse. Die ganz besondere Beschwerde, die ich zu der Zeit, die ich beschreibe, gegen die
arbeitenden Klassen hatte, indem sie durch ihre Streiks die Erfüllung meines ehelichen Glückes in die Länge
zogen, gab meinen Gefühlen gegen sie eine besondere Schärfe.
Zweites Kapitel
Der 30. Mai 1887 fiel auf einen Montag. Es war ein nationaler Feiertag, welcher im letzten Drittel des 19.
Jahrhunderts unter dem Namen Dekorationstag eingesetzt war, um das Andenken der Krieger der Nordarmee,
welche an dem Kriege zur Erhaltung der Union teilgenommen hatten, zu ehren. Die Überlebenden zogen an
diesem Tage, von dem Militär und den Magistratspersonen begleitet, unter Musik auf die Kirchhöfe und legten
Blumenkränze auf die Gräber ihrer toten Kameraden nieder. Die Zeremonie war sehr feierlich und ergreifend.
Der älteste Bruder von Edith Bartlett war im Kriege gefallen und am Dekorationstag pflegte die Familie den
Kirchhof Mount Auburn zu besuchen, wo er lag.
Ich bat um die Erlaubnis, sie begleiten zu dürfen, und als wir bei Einbruch der Nacht in die Stadt zurückkehrten,
blieb ich zu Tisch bei ihnen. Nach Tisch nahm ich im Gesellschaftszimmer eine Zeitung in die Hand und las da
von einem neuen Streik unter den Bauarbeitern, welcher voraussichtlich die Vollendung meines unglücklichen
Hauses noch weiter verzögern würde. Ich erinnere mich noch deutlich, wie aufgebracht ich darüber war und was
für Verwünschungen ich, soweit es die Gegenwart der Damen erlaubte, gegen die Arbeiter im allgemeinen und
diese Streiks im besonderen ausstieß. Ich hatte die volle Sympathie meiner Umgebung und die folgenden Bemer-
kungen über das leichtsinnige Benehmen der Agitatoren müssen diesen Herren in den Ohren geklungen haben.
Man war darüber einig, daß die Dinge immer schlimmer würden und es sich gar nicht sagen ließe, wozu das
noch führen würde. »Das Schlimmste ist«, sagte Frau Bartlett, wie ich mich noch erinnere, »daß es scheint, als
ob die arbeitenden Klassen in der ganzen Welt auf einmal verrückt geworden seien. In Europa ist es noch
schlimmer als bei uns. Ich möchte nicht dort leben. Ich fragte neulich meinen Mann, wohin wir auswandern
würden, wenn alle die schrecklichen Drohungen jener Sozialisten ausgeführt werden sollten. Er sagte, er wüßte
kein Land, wo die Gesellschaft jetzt stabil genannt werden könnte, außer Grönland, Patagonien und China.«
»Diese Chinesen wußten, was sie wollten«, fügte jemand bei, »als sie unsere westliche Zivilisation nicht zu sich
einließen. Sie wußten besser als wir, wozu sie führen würde. Sie sahen, es war nichts dahinter als verstecktes
Dynamit.«
Ich erinnere mich, daß ich dann Edith auf die Seite genommen und versucht habe, sie zu bewegen, daß wir lieber
sofort heiraten wollten, ohne auf die Vollendung des Hauses zu warten, und uns auf Reisen begeben, bis das
Haus fertig wäre. Sie war an jenem Abend auffallend schön, die Trauerkleidung, die sie zu Ehren des Tages trug,
hob die Reinheit ihrer Gesichtsfarbe aufs glänzendste. Ich sehe jetzt noch im Geiste, wie schön sie damals
aussah. Als ich gehen wollte, folgte sie mir in den Vorsaal und ich küßte sie zum Abschied wie gewöhnlich.
Dieser Abschied unterschied sich in nichts von anderen Gelegenheiten, wenn wir uns für eine Nacht oder einen
Tag trennten. Weder ich noch sie ahnte, daß dies mehr als eine gewöhnliche Trennung war.
Für einen Bräutigam war es vielleicht etwas früh, daß ich meine Braut verließ, das darf aber keinen Zweifel an
meiner Liebe zu ihr aufkommen lassen. Ich litt nämlich, obgleich sonst vollständig gesund, in hohem Grade an
Schlaflosigkeit und war an jenem Tage vollständig abgespannt, da ich die zwei letzten Nächte fast gar nicht
geschlafen hatte. Edith wußte das und hatte darauf bestanden, daß ich um neun nach Hause gehen und mich
sofort zu Bett legen sollte.
Das Haus, das ich bewohnte, war durch drei Generationen in den Händen der Familie gewesen, deren einziger
noch lebender Nachkomme in gerader Linie ich war. Es war ein großes altes Holzgebäude, das Innere von alt-
modischer Eleganz, aber in einer Lage, die wegen des Anbaues von Mietskasernen und Fabriken unbeliebt
geworden war. Ich konnte nicht daran denken, in dieses Haus eine junge Frau einzuführen, noch dazu eine so
verwöhnte wie Edith Bartlett. Ich hatte es zum Verkauf ausgeschrieben und benutzte es inzwischen nur zum
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