Ally Condie - Cassia & Ky Bd. 2 - Die Flucht.rtf

(9636 KB) Pobierz
Cassia & Ky ? Die Flucht

              Ally Condie

 

              Cassia & Ky – Die Flucht

 

              Roman

 

              Aus dem Amerikanischen von Stefanie Schäfer

 

             


              Für Ian,

 

              der hinaufblickte

 

              und loskletterte.

 



Geh nicht gelassen in die gute Nacht
Von DYLAN THOMAS

              Geh nicht gelassen in die gute Nacht,

              Brenn, Alter, rase, wenn die Dämmerung lauert;

              Im Sterbelicht sei doppelt zornentfacht.

              Weil keinen Funken je ihr Wort erbracht,

              Weise – gewiss, dass Dunkel rechtens dauert –,

              Gehn nicht gelassen in die gute Nacht.

              Wer seines schwachen Tuns rühmt künftige Pracht

              Im Sinken, hätt nur grünes Blühn gedauert,

              Im Sterbelicht ist doppelt zornentfacht.

              Wer jagt und preist der fliehenden Sonne Macht

              Und lernt zu spät, dass er nur sie betrauert,

              Geht nicht gelassen in die gute Nacht.

              Wer todesnah erkennt im blinden Schacht,

              Dass Auge blind noch blitzt und froh erschauert,

              Im Sterbelicht ist doppelt zornentfacht.

              Und du mein Vater dort auf der Todeswacht,

              Fluchsegne mich, von Tränenwut vermauert.

              Geh nicht gelassen in die gute Nacht.

              Im Sterbelicht sei doppelt zornentfacht.

Überqueren der Barre
Von ALFRED LORD TENNYSON

              Sonnenuntergang und Abendstern

              Und ein klarer Ruf für mich!

              Oh, möge es kein Seufzen an der Barre geben,

              Wenn ich in See nun stech’.

              Aber Flut und Wellen ruh’n,

              Zu voll für Ton und Gischt,

              Wenn das, was aus der grenzenlosen Tiefe kam,

              Weder zur Heimat kehrt.

              Dämmerung und Abendglocke

              Und dann danach das Dunkel!

              Oh, möge keine Traurigkeit den Abschied mir erschwern,

              Wenn ich an Bord nun geh’.

              Hinaus aus unserem Quell von Zeit und Ort,

              Mag Flut mich weit hinweg geleiten,

              So hoffe ich, wenn ich die Barre überquert,

              Ihm, meinem Steuermann, ins Gesicht zu blicken.


Kapitel 1 KY

 

              Ich stehe in einem Fluss. Er ist blau. Dunkelblau. Er reflektiert die Farbe des Abendhimmels.

              Ich bewege mich nicht. Aber der Fluss. Er bedrängt mich und raschelt im Ufergras. »Raus da!«, befiehlt der Wachmann auf der Böschung und richtet den Strahl seiner Taschenlampe auf uns.

              »Aber Sie haben doch gesagt, wir sollen die Leiche im Wasser versenken«, erwidere ich, als hätte ich den Wachmann falsch verstanden.

              »Ich habe nicht gesagt, dass Sie baden gehen sollen!«, blafft der Wachmann. »Lassen Sie ihn los, und kommen Sie raus. Aber ziehen Sie ihm vorher den Mantel aus. Den braucht er jetzt nicht mehr.«

              Ich blicke auf zu Vick, der mir mit der Leiche hilft. Vick setzt keinen Fuß ins Wasser. Er ist zwar nicht von hier, aber jeder im Lager kennt die Gerüchte über die vergifteten Flüsse der Äußeren Provinzen.

              »Alles in Ordnung«, flüstere ich Vick rasch zu. Die Wächter und Funktionäre wollen, dass wir uns vor diesem Fluss fürchten – vor allen Flüssen –, damit wir nicht auf die Idee kommen, aus ihnen zu trinken, oder versuchen, sie zu durchqueren.

              »Wollen Sie keine Gewebeprobe haben?«, rufe ich dem Wachmann zu, während Vick unschlüssig ein Stück entfernt vom Ufer stehenbleibt. Das eiskalte Wasser reicht mir bis zu den Knien. Der Kopf des toten Jungen hängt in einem unnatürlichen Winkel nach hinten, und seine offenen Augen starren in den Himmel. Die Toten sehen nichts – ganz im Gegensatz zu mir.

              Ich sehe zu viele Dinge. Das war schon immer so. Worte und Bilder verbinden sich auf seltsame Weise in meinem Kopf, und ich bemerke kleinste Details, wo immer ich auch bin. So auch jetzt. Vick ist kein Feigling, aber in diesem Moment erkenne ich die Maske der Angst auf seinem Gesicht. Die Arme des toten Jungen baumeln herunter, und die Fäden, die fransig von seinen Mantelärmeln hängen, schweben im Wasser. Seine dünnen Knöchel und die nackten Füße schimmern fahl in Vicks Händen, während er sich einen Schritt näher ans Ufer wagt. Wir mussten dem Jungen bereits die Stiefel ausziehen, und der Wachmann schwingt sie an den Schnürsenkeln hin und her wie ein schwarzes Pendel. Mit der anderen Hand richtet er den Lichtkegel der Taschenlampe genau auf meine Augen.

              Ich werfe dem Wachmann den Mantel zu. Er muss die Stiefel fallen lassen, um ihn aufzufangen. »Du kannst loslassen«, sage ich zu Vick. »Er ist nicht schwer, ich kann ihn allein tragen.«

              Aber Vick kommt zu mir ins Wasser. Die Beine des toten Jungen werden nass, und seine schwarze Zivilkleidung saugt sich voll. »Tolles Abschiedsbankett!«, ruft Vick dem Wachmann zu. Er klingt aufgebracht. »Hat er sich das Abendessen gestern ausgesucht? Wenn ja, geschieht es ihm recht, dass er tot ist.«

              So lange schon habe ich keine Wutgefühle mehr zugelassen, dass sie mich jetzt förmlich überwältigen. Sie füllen meinen Mund, aber ich schlucke sie hinunter, scharfkantig und metallisch, als beiße ich mich durch die Alufolienverpackung eines Essensbehälters. Der Junge musste sterben, weil die Wächter sich verrechnet haben. Sie haben ihm nicht genügend Wasser zu trinken gegeben, deswegen ist er zu früh gestorben.

              Wir müssen die Leiche unauffällig loswerden, weil in diesem Zwischenlager eigentlich niemand sterben dürfte. Damit müssen wir warten, bis man uns hinaus in die Dörfer schickt, wo der Feind uns erledigen wird. Aber nicht immer läuft alles wie geplant.

              Die Gesellschaft will, dass wir uns vor dem Sterben fürchten. Ich habe keine Angst davor. Nur davor, auf die falsche Weise zu sterben.

              »So enden Aberrationen«, erwidert der Wachmann ungeduldig und geht einen Schritt auf uns zu. »Das wissen Sie doch. Es gibt keine letzte Mahlzeit. Keine letzten Worte. Lassen Sie ihn los, und kommen Sie aus dem Fluss.«

              So enden Aberrationen. Ich senke den Blick und sehe, dass das Wasser genauso schwarz geworden ist wie der Himmel. Noch lasse ich nicht los.

              Bürger enden mit letzten Mahlzeiten, letzten Worten und Gewebeproben, die aufbewahrt werden, um ihnen die Aussicht auf Unsterblichkeit zu bieten.

              Mit einer letzten Mahlzeit oder einer Gewebeprobe kann ich nicht dienen, aber Worte kann ich ihm schenken. Worte gibt es immer, und sie wandern zusammen mit Bildern und Zahlen durch meinen Kopf.

              Also flüstere ich ein paar, die zu dem Fluss und dem Tod passen:

              Hinaus aus unserem Quell von Zeit und Ort,

              Mag Flut mich weit hinweg geleiten,

              So hoffe ich, wenn ich die Barre überquert,

              Ihm, meinem Steuermann, ins Gesicht zu blicken.

              Vick schaut mich überrascht an.

              »Jetzt«, sage ich, und gemeinsam lassen wir los.


Kapitel 2 CASSIA

 

              Der Schmutz ist Teil von mir. Das heiße Wasser im Eckwaschbecken läuft über meine Hände und rötet sie so, dass sie mich an Ky erinnern. Meine Hände ähneln seinen inzwischen ein wenig.

              Allerdings erinnert mich fast alles an Ky.

              Mit einem Stück Seife in der Farbe dieses Monats, November, schrubbe ich meine Finger ein letztes Mal. In gewisser Weise mag ich den Schmutz. Er setzt sich in jede Hautfalte und verwandelt meine Handflächen in Landkarten. Einmal, als ich sehr müde war, sah ich hinunter auf die Kartographie meiner Haut und stellte mir vor, sie könne mir verraten, wie ich zu Ky gelange.

              Ky ist fort.

              Meine ganze jetzige Situation – abgelegene Provinz, Arbeitslager, schmutzige Hände, körperliche Erschöpfung, seelische Qual – hängt damit zusammen, dass Ky fort ist und ich ihn suchen will. Wie seltsam, dass sich Abwesenheit wie Anwesenheit anfühlen kann. Er fehlt mir so sehr, dass ich dieses Gefühl vermissen würde, wenn es nicht mehr da wäre. Ich würde mich umdrehen und voller Überraschung feststellen, dass ich wirklich ganz allein bin, wohingegen ich vorher wenigstens etwas hatte – wenn auch nicht ihn.

              Ich wende mich von dem Waschbecken ab und sehe mich in unserer Unterkunft um. Die schmalen Fenster hoch oben in den Mauern sind dunkel, denn draußen ist die Nacht hereingebrochen. Es ist die letzte Nacht, bevor wir verlegt werden, und die nächste Arbeitsstelle wird meine letzte sein. Morgen, so wurde mir mitgeteilt, werde ich nach Central gebracht, der größten Stadt der Gesellschaft, weil mein endgültiger Arbeitsplatz in einem der dortigen Sortierzentren liegen wird. Eine richtige Arbeitsstelle, nicht länger dieses Wühlen in der Erde, diese harte, zehrende Plackerei. Mein dreimonatiger Arbeitseinsatz hat mich in mehrere Lager geführt, aber bisher lagen alle in der Provinz Tana. Ich bin Ky bisher keinen Schritt näher gekommen.

              Wenn ich flüchten und mich auf die Suche nach ihm machen will, muss es bald geschehen.

              Indie, eines der anderen Mädchen in meiner Unterkunft, drängt sich auf dem Weg zum Waschbecken an mir vorbei. »Hast du wenigstens noch ein bisschen heißes Wasser für uns übrig gelassen?«, schimpft sie.

              »Ja. Natürlich«, flüstere ich. Sie murmelt etwas vor sich hin, dreht das Wasser auf und greift nach der Seife. Mehrere Mädchen stehen hinter ihr Schlange, andere sitzen erwartungsvoll auf ihren Etagenbetten, die in langen Reihen an den Wänden stehen.

              Es ist der siebte Tag, der, an dem die Nachrichten eintreffen.

              Vorsichtig löse ich den kleinen Beutel von meinem Gürtel. Jede von uns hat so einen kleinen Beutel, und wir müssen ihn ständig bei uns tragen. Der Beutel ist mit Nachrichten gefüllt. Wie die meisten anderen Mädchen auch hebe ich die Seiten so lange auf, bis sie unleserlich geworden sind. Sie ähneln den zarten Blütenblättern der Neorosen, die Xander mir geschenkt hat, als ich wegzog, und die ich ebenfalls aufbewahrt habe.

              Während des Wartens lese ich die alten Nachrichten. Die anderen Mädchen ebenfalls.

              Schon nach kurzer Zeit vergilbt das Papier an den Rändern und zerfällt – wir dürfen die Worte lesen, sollen uns aber nicht an sie klammern. Meine letzte Nachricht ist von Bram: Er arbeite hart auf den Feldern und sei ein vorbildlicher, stets pünktlicher Schüler, was mich zum Lachen bringt. Ich weiß, dass er zumindest beim letzten Punkt die Wahrheit ziemlich strapaziert. Eine andere Passage treibt mir die Tränen in die Augen – er sagt, er habe sich den Inhalt von Großvaters Mikrochip angesehen, den aus dem goldenen Etui seines letzten Banketts.

              Der Historiker liest eine Zusammenfassung von Großvaters Leben und ganz am Ende eine Liste von Großvaters liebsten Erinnerungen vor, schreibt Bram. Jede davon galt einem von uns. Seine Lieblingserinnerung an mich war das erste Wort, das ich gesprochen habe ›mehr‹. Seine Lieblingserinnerung an dich war eine, die er ›den Tag im roten Garten‹ nannte.

              Am Tag des Banketts habe ich nicht besonders auf den Inhalt von Großvaters Mikrochip geachtet. Ich war zu sehr auf seine letzten Momente in der Gegenwart konzentriert, um mich für seine Vergangenheit zu interessieren. Später habe ich mir immer wieder vorgenommen, mir seinen Mikrochip einmal in Ruhe anzusehen, doch ich bin nie dazu gekommen. Jetzt wünschte ich, ich hätte es getan. Mehr noch: Ich wünschte, ich könnte mich an ›den Tag im roten Garten‹ erinnern. Wobei ich mich natürlich an viele Tage erinnere, an denen ich mit Großvater auf einer Bank inmitten der roten Knospen im Frühling, der roten Neorosen im Sommer oder der roten Blätter im Herbst gesessen habe. Das muss er wohl gemeint haben. Bestimmt hat Bram sich geirrt, und Großvater erinnerte sich an ›die Tage im roten Garten‹, Plural. Die Tage im Frühling, Sommer und Winter, an denen wir dort zusammensaßen und uns unterhielten.

              In der Nachricht von meinen Eltern schwingt große Freude und Erleichterung mit, denn sie haben die Mitteilung erhalten, dass der nächste Einsatz im neuen Arbeitslager mein letzter sein wird.

              Ich kann ihnen nicht vorwerfen, dass sie sich freuen. Sie glauben selbst an die Liebe und gaben mir eine Chance, Ky ausfindig zu machen, bedauern aber nicht, dass diese Chance bald vorüber ist. Ich bewundere sie dafür, dass sie es mich versuchen ließen. Das ist mehr, als die meisten Eltern tun würden.

              Ich schiebe die Blätter wieder zu einem kleinen Stapel zusammen und denke dabei an Spielkarten, denke an Ky. Angenommen, ich könnte durch diese Verlegung zu ihm gelangen? Indem ich mich im Flugschiff verstecke und mich über den Äußeren Provinzen wie ein Stein hinausfallen lasse?

              Doch wenn ich es täte, was würde er sagen, wenn er mich nach dieser langen Zeit wiedersähe? Würde er mich überhaupt noch wiedererkennen? Ich weiß, dass ich mich verändert habe. Nicht nur meine Hände sehen anders aus. Trotz der reichen Mahlzeiten bin ich von der harten Arbeit sehr dünn geworden. Dunkle Schatten zeichnen sich unter meinen Augen ab, weil ich nicht schlafen kann, obwohl die Gesellschaft unsere Träume hier nicht überwacht. Zwar beunruhigt es mich, dass man sich kaum um uns zu kümmern scheint, aber ich genieße die neue Freiheit des Schlafens ohne die Elektroden. Dennoch liege ich wach und denke über alte und neue Wörter und einen Kuss nach. Der Gesellschaft gestohlen, als sie einmal nicht hinsah. Dabei bemühe ich mich wirklich, einzuschlafen, weil ich Ky am deutlichsten in meinen Träumen sehe.

              Hier bekommen wir Außenstehende nur zu Gesicht, wenn die Gesellschaft es genehmigt, ob persönlich, auf dem Terminalbildschirm oder auf einem Mikrochip. Ganz früher hat die Gesellschaft es den Bürgern erlaubt, Bilder ihrer Partner und Angehörigen bei sich zu tragen. Wenn jemand verstorben oder fortgegangen war, hatte man wenigstens eine Erinnerung an diesen Menschen, doch das ist schon seit Jahren verboten. Inzwischen hat die Gesellschaft sogar mit der Tradition gebrochen, Partnern nach ihrem ersten persönlichen Treffen neue Fotos voneinander zu senden. Das habe ich aus einer der Nachrichten erfahren, die ich nicht aufgehoben habe – eine Information der Paarungsbehörde an alle, die sich für eine Paarung entschieden haben. Darin hieß es unter anderem:

              Die Paarungsformalitäten werden aus Gründen der Effizienz und der Optimierung der Resultate fortan rationalisiert.

 

 

              Was die Frage aufwirft, ob es noch andere Irrtümer gegeben hat.

              Wieder schließe ich die Augen und wünsche mir, mir Kys Gesicht vorstellen zu können. Aber jenes Bild, das ich in letzter Zeit heraufbeschwöre, scheint unvollständig und irgendwie verschwommen. Ich frage mich, wo Ky jetzt ist, was mit ihm geschieht und ob er es geschafft hat, das Stück grünen Seidenstoffs aufzubewahren, das ich ihm geschenkt habe.

              Ob er mich in seinem Herzen bewahrt hat.

              Ich ziehe ein anderes Blatt Papier heraus und falte es auf dem Bett auseinander. Dabei fällt auch das rosarote Blütenblatt einer Neorose mit heraus. Es fühlt sich genauso an wie ein Blatt Papier, es ist welk und schon gelblich an den Rändern.

              Meine Bettnachbarin schaut neugierig zu mir herüber, und deswegen klettere ich von meinem Bett auf das untere. Die anderen Mädchen scharen sich um mich, wie immer, wenn ich dieses besondere Blatt hervorhole. Man kann mich nicht dafür bestrafen, denn schließlich ist sein Besitz weder illegal, noch habe ich es verbotenerweise eingeschmuggelt. Es ist ein Ausdruck von einem öffentlichen Terminal, aber da wir hier nichts außer Nachrichten ausdrucken können, ist dieses kleine Stück Kunst für uns zu etwas Wertvollem geworden.

              »Ich befürchte, wir können es uns heute zum letzten Mal anschauen«, seufze ich. »Es zerfällt langsam.«

              »Ich habe leider nicht daran gedacht, einen Ausdruck von einem der Hundert Gemälde mitzubringen«, sagt Lin mit gesenktem Blick.

              »Ich auch nicht«, erwidere ich. »Jemand hat es mir geschenkt.«

              Xander hat mir das Bild gegeben, an jenem Tag, als wir in unserer Siedlung voneinander Abschied nahmen. Es handelt sich um Nr. 19 der Hundert Gemälde Die Colorado-Schlucht von Thomas Moran –, zu dem ich in der Schule einmal eine Interpretation vorgetragen habe. Damals habe ich gesagt, es sei eines meiner Lieblingsbilder, und Xander muss sich nach all den Jahren noch daran erinnert haben. Das Bild ängstigte und faszinierte mich zugleich – der Himmel war so spektakulär, die Landschaft so schön und gefährlich, so voller Höhen und Tiefen. Ich fürchtete mich vor der Weite eines Ortes wie diesem. Zugleich bedauerte ich, dass ich dies niemals sehen würde: grüne Bäume, die sich an rötliche Felsen klammern, blaugraue Wolken, die über den Himmel wirbeln, die Landschaft badend in goldenem Licht und Dunkelheit.

              Ich frage mich, ob etwas von dieser Sehnsucht in meiner Stimme mitschwang, als ich von dem Bild erzählte, ob Xander es bemerkte und sich daran erinnerte. Xander spielt seine Trümpfe noch immer sehr subtil aus, und dieses Gemälde ist einer davon. Denn wenn ich jetzt das Bild oder eines der Neorosen-Blütenblätter betrachte, denke ich daran, wie vertraut mir seine Nähe war und wie viel er wusste, und eine schmerzliche Sehnsucht erfüllt mich nach dem, was ich loslassen musste.

              Ich habe recht gehabt. Es ist tatsächlich das letzte Mal gewesen, dass wir uns das Gemälde ansehen konnten. Als ich es falten will, zerfällt das Papier. Wir seufzen auf, alle zugleich, und unser vereinter Atem wirbelt die Fragmente durcheinander.

              »Wir könnten uns das Bild auf dem Terminal ansehen«, schlage ich vor. Das einzige Terminal im Lager hockt summend drüben in der Haupthalle, groß und lauschend.

              »Nein«, erwidert Indie. »Es ist schon zu spät.«

              Es stimmt. Nach dem Abendessen müssen wir in unserer Unterkunft bleiben. »Dann eben morgen beim Frühstück«, sage ich.

              Indie winkt resigniert ab und dreht ihr Gesicht weg. Sie hat recht. Ich weiß nicht genau, warum das nicht dasselbe ist, aber so ist es nun mal. Zuerst habe ich gedacht, der Besitz des Bildes mache es zu etwas Besonderem für mich, dabei war das gar nicht der springende Punkt. Entscheidend war, dass wir es uns ansehen konnten, ohne beobachtet zu werden und ohne gesagt zu bekommen, wie wir es betrachten sollten. Dadurch war es so wertvoll für uns.

              Warum habe ich nicht schon früher, bevor ich hierhergekommen bin, Gemälde und Gedichte bei mir getragen? Dieses viele Papier in den Terminals, dieser große Luxus. So viele sorgfältig ausgewählte Beispiele der Schönheit, aber wir haben sie uns nicht gründlich genug angesehen. Wie konnte ich nicht erkennen, dass das Grün in der Nähe des Canyons so frisch war, dass man die Glätte der Blätter und ihre leichte Klebrigkeit – wie Schmetterlingsflügel, die sich zum ersten Mal entfalten – förmlich spüren konnte?

              Mit einer raschen Bewegung wischt Indie die Reste des Blattes von meinem Bett. Sie hat nicht einmal hingesehen. Das verrät mir, wie leid es ihr um das Bild tut: Sie wusste genau, wo die Fragmente lagen.

              Als ich sie zum Müllverbrenner bringe, schwimmen meine Augen in Tränen.

              Schon gut, beruhige ich mich selbst. Schließlich bleiben dir noch andere, solidere Dinge, versteckt unter dem Papier und den Blütenblättern. Mein Tablettenbehälter, den alle Bürger bei sich tragen. Das Silberetui vom Paarungsbankett.

              Kys Kompass und die blauen Tabletten von Xander.

              Normalerweise bewahre ich den Kompass und die Tablette nicht ständig in meinem Beutel auf. Dafür sind sie zu wertvoll. Ich weiß nicht, ob die Funktionäre in meinen Sachen schnüffeln, aber die anderen Mädchen tun es ganz sicher.

              Jedes Mal, wenn ich in einem neuen Lager ankomme, vergrabe ich deshalb den Kompass und die blauen Tabletten und hole sie erst kurz vor der Abreise wieder hervor. Beides ist nicht nur illegal, sondern für mich auch sehr wertvoll: Der goldglänzende Kompass kann mir die Richtung weisen, und die blauen Tabletten können mich auch ohne Wasser und Nahrung ein bis zwei Tage länger am Leben erhalten, das hat uns die Gesellschaft jedenfalls immer so erklärt. Xander hat mehrere Dutzend dieser Tabletten für mich gestohlen, so dass ich eine relativ lange Zeit überstehen könnte. Zusammen könnten diese beiden Geschenke mich vor dem sicheren Tod bewahren.

              Wenn ich doch nur zu den Äußeren Provinzen gelangen könnte!

              An Abenden wie diesem – kurz vor einer Verlegung – hoffe ich jedes Mal, dass ich noch genau weiß, wo ich meinen Besitz versteckt habe. Heute bin ich als Letzte vom Feld zurückgekehrt, die Hände von dem Erdreich einer ganz anderen Stelle auf dem Feld auffällig geschwärzt. Deswegen habe ich mich so beeilt, zum Waschbecken zu gelangen, in der inständigen Hoffnung, dass Indie mit ihrer scharfen Beobachtungsgabe die andere Farbe meiner Hände nicht bemerkte. Auch hoffe ich, dass kein Schmutz aus dem Beutel fällt und niemand das sanfte Klingen hört, jenes verheißungsvolle Geräusch, wenn das Silberetui, der Kompass und der Tablettenbehälter aneinanderstoßen.

              In den Lagern verberge ich die Tatsache, dass ich eine Bürgerin bin, sorgfältig vor den anderen Arbeiterinnen. Obwohl die Gesellschaft unseren Status normalerweise vertraulich behandelt, habe ich zufällig mitgehört, wie andere Mädchen sich darüber unterhielten, dass ihnen ihre Behälter mit den drei obligatorischen Tabletten weggenommen wurden, was bedeutet, dass ihnen – wegen eines eigenen Fehlers oder eines Vergehens ihrer Eltern – der Status als Bürgerinnen aberkannt wurde. Sie sind Aberrationen, genau wie Ky.

              Unter der Aberration gibt es nur noch eine Stufe: die Anomalie. Aber man hört fast nicht mehr von Menschen, die als solche eingestuft wurden. Es ist, als hätten sie aufgehört zu existieren. Mir kommt es inzwischen so vor, als hätten nach dem Verschwinden der Anomalien die Aberrationen deren Platz eingenommen – jedenfalls in der kollektiven Wahrnehmung der Gesellschaft.

              In Oria haben wir nie über die Gesetze der Deklassifizierung gesprochen, und ich habe mir ständig Sorgen darüber gemacht, durch mein Verhalten die Herabstufung meiner Familie verursachen zu können. Inzwischen habe ich mir die entsprechenden Gesetze jedoch zusammengereimt – aus dem, was Ky mir erzählt hat, und aus den Gesprächen der Mädchen in Momenten, in denen sie sich unbeobachtet fühlten.

              Die Gesetze besagen: Wenn ein Elternteil deklassifiziert wird, ist die gesamte Familie betroffen.

              Anders, wenn ein Kind deklassifiziert wird. Dann trägt das Kind allein die Konsequenzen seines Regelverstoßes.

              Ky wurde wegen seines Vaters als Aberration eingestuft und nach dem Tod des ersten Markham-Sohnes nach Oria gebracht. Inzwischen weiß ich, wie wahrhaft außergewöhnlich Kys Situation war. Er konnte nur deswegen aus den Äußeren Provinzen zurückkehren, weil ein...

Zgłoś jeśli naruszono regulamin